23.02.2023

Shopfloor, Post und die Liebe


Während Tinder-Nachrichten nach kurzer Zeit in Vergessenheit geraten, erreichen Liebesbriefe zuverlässig ihr Ziel: das Herz

Newsbeitrag: Praxistag Post - Postgebäude

Im Stu­di­en­gang «CAS Qua­li­ty As­suran­ce Life Cy­cle» durf­ten wir ei­nen Tag lang zu­schau­en und er­le­ben, wie die Post sich mit Kai­zen und Shopf­loor-Ma­nage­ment ver­bes­sert. Ani­kó Bel­al und Tho­mas Iff, bei­de zu­stän­dig für Un­ter­neh­mens­ent­wick­lung, Qua­li­täts­ma­nage­ment, Nach­hal­tig­keit und Kai­zen bei der Schwei­ze­ri­schen Post, nah­men uns mit in die gel­be Welt.

Su­san Čon­ka, die viel lie­ber Brie­fe als Ma­nage­ment­be­wer­tun­gen schreibt, be­glei­te­te un­se­re Stu­die­ren­den und lern­te, dass Schwei­zer*in­nen lie­ber Me­tall als Lie­bes­grüs­se ver­sen­den und dass Ro­bo­ter mit Far­ben und Glit­zer über­for­dert sind. Hier ihr per­sön­li­cher Rück­blick zum Pra­xis­tag im Brief­zen­trum Här­kin­gen:

Aus­lauf­mo­dell Lie­bes­brief

Es wa­ren höch­stens drei Per­so­nen, die aus­ser mir die Hand ho­ben, als Ani­kó und Tho­mas zu Be­ginn des Un­ter­richts die Fra­ge in den Raum war­fen: «Wer von Euch schreibt noch Brie­fe?» Zack – schnell wie die schwei­ze­ri­sche Post wa­ren mei­ne Ge­dan­ken schon aus dem Mee­tin­g­raum im Brief­zen­trum Här­kin­gen weg­ge­flo­gen zu dem grau­en No­vem­ber­mor­gen im letz­ten Jahr, an dem ich 20 Se­kun­den vor Ab­fahrt mei­nes Zu­ges den blau­en Um­schlag in den Brief­ka­sten am Gleis warf. Die Adres­se so le­ser­lich, wie es mir mög­lich ist, mit Sil­ber­stift ge­schrie­ben, das Ku­vert mit Vo­gel­sticker und Lip­pen­stift­kuss ver­sie­gelt, di­rekt vor dem Ein­wer­fen noch mit Glit­zer­pu­der ein­ge­stäubt.


Mein in­ner­li­ches Lä­cheln ver­schwand schnell, als ich ge­dank­lich wie­der zu den Teil­neh­men­den um mich her­um zu­rück­kehr­te und rea­li­sier­te: Das ist ein aus­ster­ben­des Mo­dell. Al­so nicht et­wa die Lie­be, nein, so schlimm ist es nicht, aber wohl die Art, Lie­bes­bot­schaf­ten per Brief zu über­mit­teln. Scha­de für die ge­lieb­ten Men­schen und trau­rig für die Post. Im­mer­hin, die Post kann sich da­mit trö­sten, dass sie statt Lie­bes­bot­schaf­ten Rech­nun­gen be­för­dern kann. Die ge­lieb­ten Men­schen hät­ten un­ter Um­stän­den we­ni­ger Freu­de dar­an, wenn sie statt Lie­bes­brie­fe un­se­re Rech­nun­gen be­kä­men… Aber da fiel mir ein: Was macht mir En­de Mo­nat im­mer Stress, wenn ich mei­ne Rech­nun­gen aus der Ab­la­ge neh­me und zah­le? Ge­nau: Die Rech­nun­gen in mei­nem E-Mail-Post­ein­gang. Die­se lau­fen im­mer wie­der Ge­fahr, bei mir ver­ges­sen zu ge­hen. An der Post ge­hen sie so­wie­so vor­bei. Al­so auch das für die Gel­ben nur ein kurz­fri­sti­ges Er­satz­ge­schäft.

Die Pro­fis für si­che­ren Trans­port

Ani­kó und Tho­mas stan­den strah­lend vor uns, wäh­rend 11 Teil­neh­mer, ei­ne Teil­neh­me­rin und ich ge­bannt zu­hör­ten. Ir­gend­was ma­chen die Gel­ben rich­tig und das rich­tig gut. Tho­mas brach­te es schliess­lich auf den Punkt: «Wir von der Post kön­nen die Leu­te nicht da­zu be­we­gen, mehr Lie­bes­brie­fe zu schrei­ben. Aber wir kön­nen uns über­le­gen, wie wir bes­ser wer­den kön­nen.» Das, was die Post in ih­ren knapp 175 Jah­ren rich­tig gut ge­lernt und per­fek­tio­niert hat, ist der si­che­re Trans­port von Wa­ren, In­for­ma­tio­nen, Da­ten und Zah­lun­gen.

Seit 1849 gibt es die schwei­ze­ri­sche Post, gelb wur­de sie 1939. 1964 ka­men die Post­leit­zah­len, 2013 wur­de die Post ei­ne Ak­ti­en­ge­sell­schaft und 2020 wur­de die «Post von mor­gen» lan­ciert, bei der es um Ef­fi­zi­enz­stei­ge­rung und um die ge­misch­te Zu­stel­lung von Brie­fen und Pa­ke­ten geht.

EF­QM, Au­dits, Kai­zen: le­ben­di­ge kon­ti­nu­ier­li­che Ver­bes­se­rung auf al­len Ebe­nen

1'811 Mil­lio­nen Brie­fe wer­den pro Jahr in den vier Brief­zen­tren in Eclé­pens, Här­kin­gen, Zü­rich-Mül­li­gen und Ca­denaz­zo sor­tiert und zu­ge­stellt (Stand 2021). Die Brie­fe wur­den in den letz­ten Jah­ren we­ni­ger, trotz­dem konn­te der EBIT des Brief­ge­schäfts sta­bil ge­hal­ten wer­den. Par­al­lel da­zu nimmt das Pa­ket­ge­schäft zu. Ak­tu­ell wer­den et­wa 202 Mil­lio­nen Pa­ke­te jähr­lich zu­ge­stellt. Das Pa­ket­ge­schäft ver­langt an­de­re Pro­zes­se, was eben­falls vie­le Ver­än­de­run­gen be­dingt. Der Lo­gi­stik­be­reich der Schwei­ze­ri­schen Post op­ti­miert seit Jah­ren Pro­zes­se: EF­QM für Ver­bes­se­run­gen auf der Stu­fe der Un­ter­neh­mens­füh­rung wur­de ein­ge­führt, Sy­stem-Au­dits nach dem Rei­fe­grad­mo­dell ISO 15504 wer­den für Pro­zess­ver­bes­se­run­gen ge­nutzt und Kai­zen-In­itia­ti­ven so­wie Shopf­loor-Ma­na­ge­ment ge­ne­rie­ren Ver­bes­se­run­gen in den Teams.
2022 brach­ten die aus 143 Na­tio­nen stam­men­den Mit­ar­bei­ten­den 5'500 Ide­en für Ver­bes­se­run­gen via Kai­zen ein. Die­se Ide­en kom­men aber we­der auf Knopf­druck noch mit dem Post­bo­ten. Viel­mehr ist adres­sa­ten­ge­rech­tes Vor­ge­hen beim Ein­füh­ren der neu­en Me­tho­den und Durch­hal­te­ver­mö­gen ge­fragt. Und nicht zu­letzt auch viel po­si­ti­ves Den­ken und Über­zeu­gung in ei­nem schnelllebi­gen Um­feld.

Herausforderungen und Erfolgsfaktoren

Die gröss­ten Her­aus­for­de­run­gen beim Ein­füh­ren von neu­en Me­tho­den, um kon­ti­nu­ier­li­che Ver­bes­se­rung auf al­len Ebe­nen zu ver­an­kern, ha­ben Ani­kó und Tho­mas ge­mäss Gra­fik zu­sam­men­ge­fasst.
Die Er­folgs­fak­to­ren und Schlüs­sel­mo­men­te bei der Ar­beit mit Ver­bes­se­rungs­an­sät­zen nach EF­QM, Kai­zen und Shopf­loor-Ma­nage­ment wa­ren das Com­mit­ment der Füh­rung, der Ein­be­zug al­ler Mit­ar­bei­ten­den und auch zwei Aus­zeich­nun­gen ha­ben für Glücks­ge­füh­le und Mo­ti­va­ti­on zum Dran­blei­ben ge­sorgt.

Schlüs­sel, Mün­zen und das weis­se Band

Auf dem Rund­gang durch das Brief­zen­trum wur­den wir dann di­rekt ins Ge­sche­hen und in die Sor­tier­läu­fe der Brie­fe hin­ein­ver­setzt: Über un­se­ren Köp­fen schweb­ten die grau­en Brief­ki­sten, über die För­der­bän­der vom Wa­ren­ein­gang zu den Sor­tier­sta­tio­nen bis zum Wa­ren­aus­gang. 14 Zü­ge mit ins­ge­samt et­wa 100 Wag­gons vol­ler Brief­post hal­ten täg­lich am Per­ron im Brief­zen­trum. Drei Sor­tier­läu­fe sind nö­tig, bis die Brie­fe schliess­lich fix und fer­tig nach Tou­ren sor­tiert in Brief­ka­sten­rei­hen­fol­ge das Brief­zen­trum ver­las­sen. Im er­sten Sor­tier­gang wird al­les aus­sor­tiert, was nicht ma­schi­nen­fä­hig ist. Da­bei wer­den die Au­to­ma­ten von Men­schen un­ter­stützt: Aus­sor­tiert wird, was nicht bieg­sam ist.
Die Schwei­zer*in­nen ver­sen­den of­fen­sicht­lich ger­ne Schlüs­sel oder Mün­zen. Das sind «Klas­si­ker», die dann von Hand wei­ter­sor­tiert wer­den müs­sen. Al­les an­de­re wird im zwei­ten und drit­ten Sor­tier­gang au­to­ma­tisch nach Zu­stell­tour der Post­bo­ten in der Rei­hen­fol­ge der Brief­kä­sten in je­dem Haus sor­tiert. Das be­deu­tet: Wenn je­mand im glei­chen Haus in ei­ne an­de­re Woh­nung zü­gelt, muss die Post die Sor­tie­rung an­pas­sen. Bis zu 32’000 Brie­fe wer­den pro Stun­de von den Au­to­ma­ten sor­tiert. Für das mensch­li­che Au­ge sind sie als weis­ses Band sicht­bar, das durch die Ma­schi­nen rast.

Shopf­loor und Lie­be le­ben von Hand­schrift und Pa­pier

Schliess­lich ka­men wir bei der Hand­sor­tie­rung an – al­so da, wo die Ku­verts mit den Schlüs­seln und Mün­zen lan­den. Wir wol­len wis­sen, was dort noch sor­tiert wer­den muss: Viel­leicht Sen­dun­gen mit un­le­ser­li­cher Hand­schrift? Nein, die Au­to­ma­ten sei­en ziem­lich gut im Er­ken­nen von Hie­ro­gly­phen, hö­ren wir. An der Hand­sor­tie­rung sei Hoch­sai­son vor Weih­nach­ten. All die far­bi­gen Ku­verts mit Weih­nachts­grüs­sen, oft auch mit schim­mern­den Stif­ten adres­siert, ha­ben für die Ma­schi­nen ein­fach zu we­nig Kon­trast und kön­nen von ih­nen nicht ge­le­sen wer­den. Et­wa 1’000 Brie­fe wer­den pro Stun­de von Hand sor­tiert, al­so ge­ra­de mal 3% von dem, was die Ro­bo­ter schaf­fen.

Mein Hirn bringt mir mein blau­es Ku­vert mit der Sil­be­r­adres­se in Er­in­ne­rung und lässt die Fra­ge auf­blit­zen, ob es okay war, dass ich da­für ge­nau­so viel Por­to ge­zahlt ha­be wie für ei­nen weis­sen Um­schlag und ob ge­nug Glit­zer­pu­der auf dem Ku­vert war, dass es für Sor­tier­per­son, Brief­trä­ger*in UND Emp­fän­ger ge­nüg­te?
Ehe ich wei­ter dar­über nach­den­ken konn­te, stan­den wir vor den To­ble­ro­ne-Boards. So nen­nen die Teams im Brief­zen­trum ih­re Shopf­loor-Boards: drei­ecki­ge Säu­len, an de­nen die Shopf­loor-Mee­tings zu Schicht­be­ginn statt­fin­den. Für das Shopf­loor-Ma­na­ge­ment und für die Boards hat das Füh­rungs­team des Brief­zen­trums ein paar Rah­men­be­din­gun­gen de­fi­niert. Die Aus­ge­stal­tung im De­tail liegt dann bei den Teams und kann sehr un­ter­schied­lich sein.

Da­mit die Boards funk­tio­nie­ren, wird mit Vi­sua­li­sie­run­gen ge­ar­bei­tet und Text wird von Hand auf die Boards ge­schrie­ben. Beim Shopf­loor ist es ge­nau­so wie bei der Lie­be: Hand­schrift­li­ches auf Pa­pier schafft Ver­bind­lich­keit, wird bes­ser er­in­nert und be­wegt uns mehr als un­per­sön­li­che Zei­chen am Bild­schirm.

Vom Shopf­loor ge­lernt: ei­ne In­itia­ti­ve für Qua­li­tät und Nach­hal­tig­keit von Lie­be

Nach vie­len Bei­spie­len, Ein­blicken, Fra­gen und Dis­kus­sio­nen rund um Ver­bes­se­run­gen im Lo­gi­stik­be­reich der Schwei­ze­ri­schen Post, Or­ga­ni­sa­ti­on von Shopf­loor und Mind­set für Kai­zen war­te­te das Mit­tag­es­sen im ge­müt­li­chen Re­stau­rant La­gu­ne des Brief­zen­trums auf Teil­neh­men­de und Do­zie­ren­de. Nur ich muss­te mich lei­der ver­ab­schie­den und auf den Weg ma­chen zum näch­sten Ter­min.


Im Zug be­schäf­tig­te mich die Sa­che mit mei­nen Lie­bes­brie­fen, die von Hand sor­tiert wer­den müs­sen. Wie kann ich mich bei der Post da­für be­dan­ken, dass ich far­bi­ge Brie­fe mit Glit­zer­adres­se ge­nau­so für CHF 1.10 ver­schicken darf wie ei­nen hunds­kom­mu­nen weis­sen Um­schlag? Da fiel mir der Satz von Tho­mas ein, den er am Mor­gen so bei­läu­fig er­wähn­te: «Die Post kann die Schwei­zer Be­völ­ke­rung nicht da­zu be­we­gen, mehr Lie­bes­brie­fe zu schrei­ben.» Gut, die Post kann das nicht, aber viel­leicht kön­nen wir bei der SAQ-QUA­LI­CON et­was da­für tun? Schliess­lich sind wir Pro­fis fürs Ler­nen und Ler­nen hat im­mer mit Be­we­gung zu tun.


Mir ge­fällt die Idee, Men­schen bei­zu­brin­gen, wie man rich­tig gu­te Lie­bes­brie­fe schreibt. Falls sich min­de­stens 10 Per­so­nen bei mir mel­den und In­ter­es­se be­kun­den, wer­de ich so­fort ei­nen Kurs da­für an­bie­ten. Mel­det Euch bei mir: su­san.con­ka@saq-qua­li­con.ch – ich freue mich auf vie­le Zu­schrif­ten, mit oder oh­ne Glit­zer!

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